Kommunismus = Sowjetmacht + Internet

Wenn das Neue eben erst entstanden ist, bleibt das Alte stets eine gewisse Zeit lang stärker; das ist immer so, sowohl in der Natur als auch im Leben der Gesellschaft. Wir müssen die Keime des Neuen sorgfältig untersuchen, ihnen die größte Aufmerksamkeit entgegenbringen, mit allen Mitteln ihr Wachstum fördern und diese schwachen Keime "hegen und pflegen". Es ist unvermeidlich, dass einige von ihnen zugrunde gehen werden. Nicht darauf kommt es an. Worauf es ankommt, das ist die Unterstützung aller und jeder Keime des Neuen, von denen das Leben die lebensfähigsten auslesen wird.

Lenin, Die große Initiative

I Vorbemerkungen

Der Titel ist schon etwas mehr als ein bloßes Wortspiel. Als Lenin Ende 1920 die Referenzformel 1 gebrauchte, ging es um die Sicherung der Macht und den ökonomischen Aufbau bzw. Wiederaufbau Russlands. Um was es ihm auch dabei ging: Ohne andere, höhere Technik kann keine Rede sein vom Kommunismus. Und: der Kommunismus setzt die Sowjetmacht als politisches Organ voraus, das der Masse der Unterdrückten die Möglichkeit gibt, alle Dinge selbst zu entscheiden. Unter Kommunismus verstehe ich die rationelle Regelung des Stoffwechsels der assoziierten Produzenten mit der Natur auf der Grundlage des Gemeineigentums an Produktionsmitteln. Diese einleitenden Worte lassen vielleicht schon ahnen, dass meine Überlegungen nicht so zu verstehen sind, dass die neue Technik, das Internet als solches schon so etwas wie die Vorstufe des Kommunismus darstellt oder seine konsequente Verbreitung uns ihm schon näher bringt. Das wird nicht ohne Klassenkämpfe abgehen und steht noch immer die Alternative Sozialismus oder Barbarei. Mir geht es vielmehr darum zu ergründen, inwieweit das Internet bzw. der Computer das dem Kommunismus gemäße Werk-/Denkzeug ist. "In der wissenschaftlich geplanten Ökonomie des Sozialismus wird sich die Kybernetik - davon sind wir fest überzeugt - als wichtiges Hilfsmittel der Planung und Lenkung der Wirtschaft - und zwar gestützt auf die künftigen kybernetischen Maschinen - immer mehr Einfluß verschaffen. Gibt es, wie wir gezeigt haben, lsomorphien zwischen bestimmten abstrakten kybernetischen Systemen Sk und polit-ökonomischen Bereichen Sp, so übertragen sich die in Sk gefundenen Gesetze automatisch auf Sp, mitsamt den zugehörigen methodologischen Prinzipien. Mehr noch! Da Sk auch konkrete technische Modelle St besitzt (z. B. be-stimmte Typen elektronischer Rechenmaschinen), [...] so folgt daraus, daß man an St politökonomische Modellexperimente ausführen kann. Diese Hinweise mögen genügen. Das hier skizzenhaft charakterisierte Forschungsfeld ist zukunftsträchtig. Seine Bedeutung für den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus kann kaum überschätzt werden."2

Dieses Zitat stammt aus dem Jahr 1962, einer Zeit also, in der die damalige "Keimform des Neuen", die Phase des Aufbaus der Grundlagen des Sozialismus in der DDR, in seine "heroische Phase" trat. Es verweist auf eine Entwicklungslinie, die - nicht erst durch das Ende der DDR - mehr oder weniger aufgegeben wurde, nichtsdestotrotz aber Anknüpfungspunkte für heutige, ungleich schwächer entwickelte Keimformen des Neuen liefert.

II Der Computer im Produktivkraftsystem

In Paraphrase des Marxschen Diktums, wonach die Umwälzung der Produktionsweise in der Industrie das Arbeitsmittel zum Ausgangspunkt nimmt, läßt sich die These formulieren:

Der Computer ist der Ausgangspunkt für eine neue Produktionsweise.

Während in der Manufaktur die Arbeitskraft (in der nun manufakturmäßig geteilten Arbeit) der Ausgangspunkt für die Umwälzung war (die Arbeitsmittel blieben gleich: das Handwerk blieb die Basis), so für die kapitalistische Industrie das Arbeitsmittel: die Maschinerie.

Marx unterscheidet drei wesentliche Teile der Maschinerie: die Bewegungsmaschine, die die Energie liefert (Dampfmaschine/Elektromotor); der Transmissionsmechanismus (aus der Sicht von heute treffender als Algorithmusmaschine3 zu bezeichnen), die die Triebkraft der Bewegungsmaschine umsetzt in die Bewegungen der Werkzeugmaschine, die für die gewünschte Bearbeitung des Arbeitsgegenstandes erforderlich sind. "Dieser Teil der Maschinerie, die Werkzeugmaschine, ist es, wovon die industrielle Revolution im 18. Jahrhundert ausgeht." 4

Es spricht für Marx' Scharfsinn, dass er die Eigenständigkeit des Transformationsmechanismus zu einer Zeit erkannte, als er dem Augenschein nach noch Bestandteil der Werkzeugmaschine war. Denn von hier aus wird die Bahn in den Kommunismus freigelegt. (Man sollte hier vor allem das Bild von den assoziierten Produzenten im Auge behalten.)

Was sind die spezifischen Eigenschaften des Computers?

1. seine Fähigkeit geistige Funktionen zu automatisieren (regeln, vergleichen, zählen, berechnen: Funktionen, die sich algorithmisieren lassen).

2. seine Universalität: Er ist nicht nur zu einem einzigen Zweck einsetzbar. Dadurch, dass unterschiedlichste Prozesse auf Algorithmen abgebildet werden können, die der Prozessor verarbeiten kann, wird dieser zum jeweils speziellen Problemlöser für z.B. Datenbankverwaltung, Textverarbeitung, Steuerung von Werkzeugmaschinen, Telekommunikation.

3. seine (mit der Miniaturisierung einhergehende) Ubiquität und die Kommunikations-fähigkeit zwischen unterschiedlichen Rechnern.

Für die Produktivkraftentwicklung folgt

aus 1.: Nach dem Ersetzen der Menschenkraft durch maschinelle Energieumwandler tritt der Mensch tendenziell aus dem Informationsverarbeitungs-, Steuerungs- und Regelungsprozessen der Produktion heraus. Nach einer Vervielfachung der physischen Kräfte nun also die Potenzierung seiner geistigen Kräfte.

Dazu gehört insbesondere die Simulationsfähigkeit komplexer Dispositionen und Prozesse. Der schlechteste Baumeister hat der Biene nun noch mehr voraus: er kann sich ein noch nicht erstelltes Gebäude unter unterschiedlichen Blickrichtungen, Lichtverhältnissen vorstellen lassen.

aus 2.: die integrative Tendenz in der Arbeitsteilung, vorher getrennte Arbeitsschritte wieder zusammenzuführen. Die Entwicklung eines Fertigungsteils von der Erfassung vorgegebener Daten über die Simulation seines Gebrauchs bis zur Programmierung seiner realen Fertigung liegt in einer Person bzw. in einem Team. Entsprechend verläuft auf der materiellen Fertigungsebene die Entwicklung von der Taylorschen größtmöglichen Zergliederung der Trend zu integrativen Konzepten, für die zunächst der Name CIM (Computer Integrated Manufacturing) steht, aber auch darüber hinaus weist.

aus 3.: Die Koordinationsleistungen innerhalb eins Prozesses sind nicht an die Entfernungen gebunden. (Das Rechenzentrum der Lufthansa steht in Indien.) Die Ersetzung zentralistischer Konzepte durch Netzkonzepte, deren Struktur sich durch Realisierung/Reproduktion in Selbstorganisation auszeichnet. Dafür steht - sozusagen als synenergetischer Effekt von 2. und 3. - auf der Ebene der materiellen Fertigung das Schlagwort "fraktale Fabrik".

Liegen damit Voraussetzungen dafür vor, dass "die Zusammensetzung des kombinierten Arbeitspersonals aus Individuen beiderlei Geschlechts und der verschiedensten Altersstufen, obgleich in ihrer naturwüchsig brutalen, kapitalistischen Form, wo der Arbeiter für den Produktionsprozess, nicht der Produktionsprozess für den Arbeitzer da ist, Pestquelle des Verderbs und der Sklaverei, unter entsprechenden Verhältnissen umgekehrt zur Quelle humaner Entwicklung umschlagen muss."5?

III Geschichte

Ungefähr ab den 70er Jahren wurde gesehen, dass sich etwas Wichtiges und Neues abspielt. Man fühlte, dass die informationelle Revolution mehr als eine normale Modernisierung ist. Sie geht in der Tat einher mit einem Epochenumbruch, den zu begreifen es nützlich ist sich folgendes in Erinnerung zu rufen.

In jeder Epoche korrespondieren oder operieren synergetisch miteinander

- allgemeine Weltentwürfe und die Beziehungen des Menschen zum Universum

- Sozialstruktur, insbesondere Eigentumsverhältnisse - Kohärente wissenschaftliche und Wissenssysteme

- Technik und Produktionssystem

In der jetzt auslaufenden Epoche Kapitalismus/Moderne illustrieren dies

- das auf Newton zurückgehende mechanistische Weltbild, dessen Zusammenhang mit dem Gesellschaftsentwurf des Liberalismus (social engineering!) ins Auge springt

- das überhöhte autonome Subjekt, das mit "Gottesaugensicht" auf die Welt blickt

- die strikte Trennung von Geist und Materie (Descartes res cogitans versus res extensa)

- hierarchische Strukturen in der Produktion, in Ausbildung und Familie, aber auch in der Anordnung des Wissens (man denke an die Enzyklopädisten oder die großen Taxonomien wie die von Linné). Die zugehörigen Produktivkraftsysteme fanden ihre zugespitzteste Ausprägung in der Taylorisierung der Arbeit.

Die informationelle Revolution entwickelt sich im Widerstreit zu diesen die Formation prägenden Verhältnissen.

Der Widerstreit beginnt schon mit der Entwicklung des Computers selbst, denn er erklärt die langen Geburtswehen bis zu seiner heutigen Form. Charles Babbage konstruierte 1833 einen Rechenautomaten, der in seiner Struktur dem heutigen Computer entspricht: Rechenwerk, Programmsteuerung (durch Lochkarten) und einen Speicher. Dass er keine seiner Maschinen so richtig fertig kriegte, lag sicher zu einem beträchtlichen Teil an den nicht adäquaten technischen Voraussetzungen, obwohl Nachbauten von anderen kurze Zeit später funktioniert haben sollen. Aber dass die entscheidende Idee Johann von Neumanns, der programmierbare Speicher, über hundert Jahre auf sich warten ließ, lässt sich mit guten Gründen auf die strikte Trennung von Geist und Materie zurückführen.

Menschen haben sich seit geraumer Zeit mit Automaten beschäftigt, die mechanische Prozesse abarbeiten (schon um 1500 waren Taschenuhren in Gebrauch) und solche, die mathematische Algorithmen, Nachbildungen geistiger Prozesse also, abarbeiten. Beides waren völlig getrennte Bereiche. Leibniz hat sich mit beiden beschäftigt, aber eben als getrennte Probleme. Babbage vereinte nun sogar die Programmsteuerung des damals fortgeschrittensten mechanischen Automaten, den lochkartengesteuerten Webstuhl von Jacquard, mit Recheneinheit und Speicher in einer Maschine, und dennoch blieb das Programm vollständig getrennt von den Daten und Resultaten der Rechnung. Die entscheidende Idee von Neumanns war der programmierbare Speicher, der es erlaubt Ergebnisse von Rechnungen auf den weiteren Rechengang zurückwirken zu lassen; eine Idee, die im mechanischen Bereich zum ersten Mal der französische Ingenieur Farcot 1859 durch den Einsatz eines Servomotors für die Steuermanöver eines schwerfälligen Kriegsschiffes verwirklichte: die Idee der Rückkopplung. Das Zusammenführen der Rückkopplung geistiger und mechanischer Prozesse ergibt den Roboter der 3. Generation: eine universelle Maschine, die, jenachdem welche Werkzeuge jeweils gegeben sind und welches Programm der Prozessor ausführen soll, dies oder das produzieren kann. Der Computer als abstrakte universale Maschine wird somit zum integralen Bestandteil eines universellen Produzenten.

Rückkopplung ist fundamental für Nichtlinearität und Chaos, für Konzepte der Selbstorganisation (Prigogine) oder komplexer adaptiver Systeme (Gell-Mann). Ist es übertrieben, vom Zeitalter der Rückkopplungsmaschinen und -konzepte zu sprechen?

Wo Automatisierungen durchgeführt werden, ergeben sich Umwälzungen in der traditionellen Arbeitsteilung, der Verantwortlichkeiten, der Qualifikationsaufteilungen, der Aus- und Weiterbildung der Arbeiter. Studien aus ganz unterschiedlichen Bereichen (öffentliche Verwaltung, private Versicherungsgesellschaft und Produktionsbetrieb) gaben eine erstaunliche Übereinstimmung in z.B. folgenden Punkten: Ausbildung aller Mitarbeiter über Möglichkeiten und Grenzen der Automatisierung. Die Reorganisation fand in Zusammenarbeit von Informatikern und allen Gruppen statt, wobei gerade die unteren Kategorien wichtig waren, da sie die wahren Probleme kennen. (Versuche, informatorische Lösungen von oben, am grünen Tisch, ausgehend von formalen Modellen zu finden, endeten mit grandiosen Reinfällen.) Der Chef wurde zum Koordinator von verantwortlich handelnden Menschen, die für eine gemeinsame Aufgabe kooperierten. Die Hierarchien verschwanden, was vor allem das mittlere Management nicht so gut fand. An die Stelle einer Hierarchie tritt eine Netzorganisation.

Die augenfälligste Vorstellung von der Neuanordnung und -aneignung von Wissen bekommt, wer im Internet etwas sucht. Man hangelt sich von Link (Verweis) zu Link, bis man das Gewünschte - und meistens noch viel mehr - findet. Aber auch Wissensdarstellungen auf Papier (z.B. Lexika) sind heute mit vielfältigen Querverweisen versehen. Man vergleiche dazu etwa die Große Enzyklopädie, die nur vereinzelt auf andere Artikel verweist.

IV Probleme, die der Kapitalismus mit dem Computer hat

Der Imperialismus, das gegenwärtige Stadium des Kapitalismus, ist im marxistischen Verständnis ein geschichtstheoretischer Begriff. "Das geschichtlich notwendig Gewordene setzt sich praktisch-theoretisch als Sozialismus in Wirklichkeit. Der Sozialismus spiegelt die gesetzmäßige Bewe-gung des bestimmten historischen Orts, den Über-gang von der «Vorgeschichte» zur «eigentlichen Ge-schichte», adäquat wider und bildet sie aus. Der Im-perialismus hingegen ist deren inadäquater Ausdruck; er spiegelt die Gesetzmäßigkeit der Entwicklung ver-kehrt und verzerrt - wie analog der philosophisch-weltanschauliche Idealismus (als Gegensatz des Ma-terialismus) nicht außerhalb der Realität operiert, son-dern die materielle Wirklichkeit verkehrt und verzerrt widerspiegelt. Imperialistische Vergesellschaftung ist wesentlich deformierte Vergesellschaftung und de-formierte Globalisierung - darin zeigt und bestimmt sich ihr historischer Charakter, ihre gebrochene «Mo-dernität» und ihre historische Unangemessenheit. Der Imperialismus trägt der historischen Notwendigkeit beschränkt Rechnung - und ist ihr genauer Gegen-satz. Das imperialistische Stadium des Kapitalismus gewinnt seine relative Geschichtsfähigkeit wie seine geschichtlich-qualitative Möglichkeitsgrenze aus sei-ner Bestimmung, «unmittelbare Vorstufe des Sozia-lismus» (Lenin) zu sein. Insofern kann der Imperia-lismus als die Perversion dessen, was Sozialismus sein soll, beschrieben werden."6

Das gilt insbesondere für die vielbeschworene Globalisierung. Globalisierung ist dem Kapitalismus inhärent; denn das Kapital kann nur als selbstverwertender Wert (exp. Wachstum!) existieren, was die Bourgeoisie zwingt die Produktionsverhältnisse fortlaufend neu zu revolutionieren und "nach einem stets ausgedehnteren Absatz für die Produkte zu suchen"7. Aber er setzt sie nicht als das geschichtlich notwendig Gewordene (= Sozialismus) durch. Es scheint eben nur so, als hätte - wie es Haug so schön formuliert hat - "der ‚general intellect', (der allgemeine gesellschaftliche Verstand also) von dem Marx in den Grundrissen gesprochen hat, in Gestalt des Internet sein Nervenkostüm erhalten."8 Schon seine soziale und geographische Fragmentierung schließt den überwältigen Teil der Menschheit von vornherein aus. Ghana hat einen einzigen Internet-Host, dessen Nutzungsgebühr für ein Jahr dem Jahreseinkommen eines ghanaischen Journalisten entspricht. Und wir sind mitten drin im Bestreben des Kapitals dem Internet seine Geschäftsgrundlage aufzudrücken.

Uns geht es ja hier um die Produktivkraftentwicklung. Dem Zwang zur Erschließung neuer Potenziale folgend, hat der Kapitalismus gute Vorarbeit geleistet: Seine fortgeschrittensten Produktionskonzepte zeigen eine Tendenz zur Dezentralisierung und Modularisierung. Das Modul ist als sich selbstorganisierendes Element mit nur wenigen Schnittstellen mit dem gesamten Fertigungsprozeß verbunden. Diese Tendenz vollzieht sich sowohl innerhalb der Betriebe, indem kleine - meist homogene - Gruppen Gleichgesinnter in einer hierarchiefreien Atmosphäre zusammengestellt oder relativ autonome Abteilungen gebildet werden, als auch dadurch, daß Teilprozesse gänzlich ausgelagert werden und die Beziehungen durch Lieferverträge und -kommunikation geregelt werden. "Maximale Reaktionsfähigkeit ist nur möglich durch intensive Kooperation, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Unternehmens." (Hervorh. von mir, H.D) berichtet ein Kronzeuge.10 Ed Miller, Präsident des National Center for Manufacturing Sciences der USA, entwickelt die Vision eines weltumspannenden Kommunikationsnetzes, mit dem die Möglichkeit eröffnet ist, ein Produkt ohne Zeitverzug an beliebigem Ort in beliebiger Ausfertigung herzustellen.

Manche Ansätze gehen so weit, auf eine zentrale Planung (des Unternehmens) und Administration gänzlich zu verzichten. Das verbindende Element zwischen den autonomen Einheiten bildet dann ausschließlich ein umfassendes Informationssystem, mit dem alle Informationen flächendeckend verfügbar gemacht werden. Der Dialog verläuft in Form einer Anfrage, auf welche jedes andere Element spontan reagieren kann. Eine solche Struktur kann zwei Zustände annehmen: Simulation oder realer Betrieb. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, die (schwer voraussehbaren) Folgen einzelner Entscheidungen auszutesten.

In einer Fallstudie heißt es:

"Auf Wunsch der Geschäftsleitung soll die Effektivität der Fraktalmitglieder" (Fraktal bezeichnet hier ein autonomes Modul innerhalb eines Fertigungsprozesses, H.D) "prämiert werden. Wichtig dabei ist, daß das Fraktal als Ganzes bewertet wird; einzelne Gruppenmitglieder werden nicht unterschiedlich prämiert. Deshalb ist das Prämiensystem so angelegt, daß die permanente Erreichung der Zielvorgaben, ständiges Vorgehen sowie eine einfache und eindeutige Prämienberechnung sichergestellt sind." 11

Die Ausnutzung der Effektivitätspotentiale der fortgeschrittendsten Produktivkraftentwicklung führe - wäre diese ihrer kapitalistischen Hülle beraubt - auf der Ebene der Produktionsverhältnisse offenbar zur Konsequenz der guten alten sozialistischen Brigade!

Die Transformation von hierarchischen in Kooperationsbeziehungen kann sich im Kapitalismus jedoch nur in widersprüchlicher Form vollziehen, weil dieser sich seinem Wesen nach nur als Gewaltverhältnis, das intern als von oben nach unten durchgereichtes Diktat erlebt wird, reproduzieren kann. Unter kapitalistischer Hülle wird die Gruppe eines Fraktals eben noch keine sozialistische Brigade, sondern eine Überlebenszweckgemeinschaft, die sich sowohl der - nun wenigen, nichtsdestotrotz knallharten - Vorgaben von oben als auch des Missbrauchs und der Ausbeutung von Solidarität zu erwehren hat.12 Dennoch: unter dem Aspekt der Organisation des Arbeitsprozesses, der "Verwaltung von Sachen", ist die Transformation in eine Kooperationsbeziehung genauso unbestreitbar wie die des aus dem Unternehmen ausgelagerten, nun in eigener Regie arbeitenden Zuliefererbetriebes. Der Kapitalismus pervertiert auch hier, was Sozialismus sein soll.

Der Aufstieg der Wissenschaft zur Hauptproduktivkraft treibt Marx zufolge eine Ökonomie, die sich durch Arbeitswert reguliert, an ihre historische Grenze.13

Was die politische Ökonomie des Informationskapitalismus betrifft, so gibt es zwar nichts grundlegend Neues, aber doch Veränderungen, die durchdacht zu werden verlangen. Wie bei einem papiernen Buch oder einer Audiokassette ist auch bei digitalen Informationsprodukten zunächst zu unterscheiden zwischen dem ideellen Produkt, den Kopien dieses ideellen Produkts und dem Nutzungsrecht, das ein Nutzungsrecht an den Einzelexemplaren (private Nutzer) oder an dem ideellen Produkt (meistens durch Firmen) sein kann. Die wertbildende Arbeit findet hier vor allem in der Entwicklungsarbeit statt, während der Aufwand für Vervielfältigung und Distribution gegen Null tendiert. Der produzierte Wert ist (dies wiederum wie beim papiernen Buch) anteilig auf die in den Umlauf gebrachten Kopien verteilt. Es ist bei digitalen Produkten nur schwieriger den Wert zu realisieren, denn bei die der praktisch Kostenlosigkeit der Kopien wächst gleichzeitig die Attraktivität von "Raubkopien" durch die Möglichkeit der 1:1 Kopie (der Unterschied zwischer einem Originalbuch und seiner papiernen Kopie ist von beträchtlich unterschiedlicher Qualität). Sie sind kein knappes Gut mehr und kollidieren damit mit ihrer im Kapitalismus erforderlichen Wertform. Die Durchsetzung ihrer Warenform - Bedingung für die Wertabschöpfung - kann letztlich nur durch Gesetzgebung und Polizei gesichert werden: Urheberrecht, Kostenerhebung für Zugang oder Abonnement, Verschlüsselung, usw.. Ohne äußeren Eingriff stünde ihre Nutzung so frei wie das allgemeine Wissen.

Im Kapitalismus finden nun gerade die gegenläufigen Tendenzen statt. Solange - bis in die 80-er Jahre hinein - Software keine eigenständige Rolle gegenüber der Hardware spielte, gehörte sie zum frei verfügbaren Wissen wie der Satz des Pythagoras. Das Betriebssystem UNIX war das erste Betriebssystem, das kommerziell vertrieben und so zum propietären, exklusiven Wissen wurde. Die als Reaktion darauf einsetzende Open-Source- bzw. Free-Source-Bewegung demonstrierte auf ihre Weise die Möglichkeiten einer neuen Produktionsweise durch die Entwicklung des Betriebssystems Linux. Linux ist Anfang der 90er Jahre unter bemerkenswerten Umständen entstanden.: in sich selbst organisierender kollektiver Entwicklungsarbeit rund um den Globus verorteter Menschen, das Internet als verbindendes Medium nutzend. Es wurde der Beweis erbracht, dass ein hochkomplexes Produkt, von dem man bisher annahm, dass es zu seiner Erzeugung eines zentralistisch ausgerichteten Plans (wie beim Bau einer Kathedrale) bedarf, in interaktiver Projektarbeit, ohne einen obersten Kontroller, erstellt werden kann. (E.S. Raymond fand in seinem klassisch gewordenen Essay14 dafür die Metapher von Kathedrale und Basar.) Damit wurde gleichzeitig die Fesselung der Poduktivkräfte in einer Produktionsweise, die mit Gütern nur in ihrer Form als Ware etwas anfangen kann, denunziert.

Die Frage, ob die Wertrationalität erschöpft ist oder auch die Frage, inwieweit der Kapitalismus dem Computer systemisch gewachsen ist, stellt sich auch in anderer Weise. Denn Entgegen allen Erwartungen flachten sich trotz des Computereinsatzes in den imperialistischen Metropolen die Zuwachsraten in der Arbeitsproduktivität ab15 . Das Paradoxon von Solow (Nobelpreisträger für Ökonomie) besagt: "Überall sieht man die Effekte der Informatik, nur nicht in den Statistiken über die Produktivität."

In den USA ist eine Debatte darüber entbrannt, ob die Verdoppelung des Produktivitätszuwachses von 0,6 % in der Zeit 91-95 auf 1,25 % in der Zeit 96-99 eine Auflösung des Solowschen Paradoxons bedeutet. Robert J. Gordon hat herausgefunden, dass außerhalb des Informatiksektors selbst die Computer die Produktivität nicht verbessert haben und hat dies als ein neues Paradoxon gefasst: "Die Informatik erhöht die Produktivität nur in den Unternehmen, die informatorisches Material herstellen."16

Halten wir uns noch, bevor wir zu den Problemen im Sozialismus kommen, kurz vor Augen, wie im Kapitalismus Komplexität bewältigt wird.

Mit der Entwicklung der Marktbeziehungen und ihrer räumlichen Ausbreitung wurden die Beziehungsgeflechte zwischen den Menschen komplexer. Man konnte und kann ihrer nur Herr werden durch Abstraktion. Marx und Engels erwiesen sich als frühe "Kritiker der Moderne", wenn sie im Manifest analysieren: An die Stelle feudaler persönlicher Beziehungen treten sachliche Beziehungen, die letztlich kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriglassen als die gefühllose "bare Zahlung".

Auch sind wir heute meilenweit entfernt von der Welt Adam Smiths mit ihrem unternehmerischen, erfinderischen und weitsichtigen Kapitalisten, dessen persönliche Bindung an sein Eigentum sich aus Wissen und Können speist. Schon Rosa Luxemburg konstatierte, dass sich mit der Entwicklung von Kredit und Aktiengesellschaften das Eigentum an Kapital als Anspruchstitel bei der Verteilung gänzlich von persönlichen Beziehungen in der Produktion sondert und in seiner reinsten, geschlossenen Form erscheint. Heute lässt sich treffender der Kapitalismus als kybernetische Maschine mit der Verwertung als Regler beschreiben. Wenn aber das Kapital völlig getrennt von seinen Funktionen in der Produktion fungiert, bedeutet dies auch, dass alles Wissen und Können in Kopf und Hand der Arbeiterklasse liegt.

Wenn man die Begrifflichkeit akzeptiert, wonach sich Gesellschaft durch Warenaustausch konstituiert, Gemeinschaft aber durch sinnliche Kooperation, dann läßt sich die Bewältigung von Komplexität in der bürgerlichen Gesellschaft als Vergesellschaftungsprozeß beschreiben: die Reduzierung des öffentlichen Lebens auf Verfahrensregeln, die Transformation von Gemeinschafts- in Warenbeziehungen, die bis in die intimsten Beziehungen zwischen Menschen eindringen. Mit dem Kapitalismus erwuchs die Herrschaft der abstrakten Arbeit: das Kapital interessiert die lebendige Arbeit nur insoweit, wie sie sich in abstrakte umwandeln und als Tauschwert realisieren läßt. Neben den allseits bekannten desaströsen sozialen Folgen dieser Herrschaft hat die Beschleunigung des Stoffwechsels mit der Natur mit der einhergehenden Unkontrolliertheit ein Ausmaß erfahren, daß die Menschheit sich selbst auszurotten in der Lage ist und allen schönen Etiketten wie dem der "weightless economy" zum Trotz steigt der stoffliche Ressourcenverbrauch weiterhin gigantisch an.

Die Primitivität dieses Prinzips wird handgreiflich, wenn wir uns denn vor Augen führen, daß eingedenk der - in dieser Allgemeinheit unter Marxisten wohl unbestrittenen - Voraussetzung, daß Rechtsnormen, politische Entscheidungen, usw. strukturell vom Kapital dominiert sind, die Besiedelung einer Landschaft, die Entscheidung über die Vernutzung einer Naturressource letztlich und entscheidend von einer Regelgröße, dem Wert (im politökonomischen Sinne) abhängt. Wert ist aber eine rein gesellschaftliche Kategorie; die Natur produziert keine Werte. Ein kapitalistisches Gesellschaftssystem ist also prinzipiell selbstreferentiell, d.h. auf sich selbst rückbezogen, gegenüber der Natur.

V Probleme, die der Sozialismus ohne Computer hatte und die jetzt mit dem Computer gelöst werden könnten

Bisher war alle Ökonomie eine Ökonomie der Zeit. Sie war es, wenn in der Urgesellschaft die zur Reproduktion erforderlichen gemeinschaftlichen Tätigkeiten effektiver zu bewältigen waren. Sie findet ihren Ausdruck im hinter dem Rücken der Agierenden wirkenden Wertgesetz, das in der kapitalistischen Warengesellschaft den Langsameren zur Strecke bringt und es galt/gilt für die Länder, die (nach der Pariser Commune) den zweiten Vorstoß in eine neue Menschheitsepoche unternahmen.

Es ist heute müßig darüber zu spekulieren, was aus dem NÖS und dem Sozialismus geworden wäre, wenn damals eine adäquate rechentechnische Basis zur Verfügung gestanden hätte. Aus meiner Sicht hat die theoretische Reflexion von Sozialismus- und insbesondere auch ökonomischer Konzepte in der Ulbricht-Zeit ein Niveau erreicht, das später nicht mehr erreicht wurde. Was die kybernetisch-mathematische Schiene betrifft, ist sie mit den Namen Georg Klaus und Rainer Thiel verbunden.

Zunächst ging es darum den Blick für die Existenz kybernetischer Systeme in der Gesellschaft zu öffnen. Klaus (der leider schon 1974 starb) ging nach wie vor vom zentralen Plan aus. Allerdings begreift er "Plan" nicht im Sinne von Planziele, sondern die Mittel-/Strategiebestimmung um die Planziele zu erreichen. So ist er in der Lage, den Plan selbst als kybernetische Kategorie zu begreifen.

Wesentliches Mittel der Planbewältigung waren Verflechtungsbilanzen. Problem: diese bilden nur Zustände ab. Ändern sich irgendwo Bedingungen, müssen die Matrizen (das mathematische Abbild einer Verflechtungsbilanz) sozusagen per Hand geändert werden. Die Zeit für dynamische Bilanzierungen, mathematisch abgebildet durch Differentialgleichungen, hielt er noch nicht für gekommen. Klaus sieht aber durchaus am Horizont die mit Computertechnik rückgekoppelten vollautomatischen Produktionseinheiten.17 Also: mehr als lineare Algebra war als Mittel zur Bewältigung von Komplexität nicht drin und Rückkopplung musste per Hand eingestellt werden.

Eine 1978 angestellte Untersuchung ergab, das im Zeitraum ab 1970 Matrizenrechnung, Statistik, Numerische Mathematik und Optimierung zu ungefähr gleichen Teilen diejenigen mathematischen Modell- und Methodenklassen waren, die das Nutzungspotenzial bestimme.18 Bis zum Ende der DDR hat sich daran kaum etwas geändert.

Rainer Thiel öffnete - auch schon in der Ulbricht-Zeit - den Blick für den heuristischen Gebrauch mathematischer Begriffe in Analyse und Prognose gesellschaftlicher Prozesse. Dabei geht es ihm weniger um "Anwendungen" der Mathematik auf quantitative Verhältnisse, auch nicht um ihren metaphorischen Sprachgebrauch, sondern darum, dass mathematische Begriffe Widerspiegelungsleistungen auch gesellschaftlicher Prozesse erbringen können, wie sie in der Umgangssprache nicht oder nicht mit der gleichen Präzision erreicht werden können. Die Kybernetik ordnet er zwischen Mathematik (niedrigste Interpretationsstufe - höchste Abstraktionsstufe) und solchen Theorien wie Mechanik, Ökonomie, usw. (höchste Interpretationsstufe - niedrigste Abstraktionsstufe) als Theorie reinen Zeitverhaltens ein.19 In fachwissenschaftlichen Kreisen wurde die Diskussion über die Tragweite neuerer mathematischer oder physikalischer Konzepte für die Analyse und Prognose gesellschaftlicher Prozesse durchaus fortgesetzt, sie spielte aber auf politischer Ebene zunehmend keine Rolle mehr.

Das Dilemma, in dem sich die am höchsten entwickelten sozialistischen Länder befanden, bestand darin, dass sie einerseits mit dem Bruch in den Eigentumsverhältnisen die notwendigen Bedingungen für den Aufbruch in eine neue Epoche schufen, andererseits die mit dem Kapitalismus gewachsenen Strukturen und insbesondere die pervertierte Form, in der sich Produktivitätsfortschritt durchsetzt (durch das Wertgesetz im Rücken der Agierenden) nicht sofort in ein System überführen konnten, in dem "die individuellen Arbeiten nicht mehr auf einem Umweg, sondern unmittelbar als Bestandteile der Gesamtarbeit existieren."20 Nicht aus subjektivem Unvermögen, es ging einfach nicht. Denn: es war nicht nur der Aufbau eines neuen differenzierten Systems von Produktionsbeziehungen erforderlich (dies geschah in der DDR mit dem Übergang von der Planung in Tonnenideologie zum NÖS 1963), sondern darüber hinaus zu einer Organisationsweise, die es ermöglicht, die Tätigkeit des Gesamtarbeiters lokal erfahrbar und überprüfbar zu machen. Dies durch eine zentrale Planung zu erreichen, war (und ist!) nicht möglich. ) Es würde anmuten wie der Versuch, einen komplexen thermodynamischen Vorgang, z.B. die Ausbreitung eines Tintentropfens in Wasser, mikroskopisch durch die Beschreibung einzelner Trajektorien in den Griff zu bekommen, was ja tatsächlich auch versucht wurde. Da hilft auch kein Computer mehr. Die konkrete Verteilung der Güter musste auch über den Austausch geregelt werden. So entstand ein Anschein von Warencharakter der Güter (durch die Notwendigkeit des Austauschs) bei gleichzeitiger Negation ihrer Wertform durch den Plan. So wie man sich im Kapitalismus durch lokale Rationalität (Plan des Unternehmens) globale Irrationalität (Anarchie) einfing, war es im Sozialismus in gewissem Sinne umgekehrt.

Erst der Kommunismus fügt wieder zusammen, was seit der gemeinschaftlichen Arbeit in der Urgesellschaft zunehmend getrennt wurde: kooperative Bewältigung der produktiven Tätigkeit mit Regulierung der Aneignung durch Zuteilung. Der Computer durchbricht die bisher gesetzte Beschränkung der Kooperation auf sinnlich Anwesende durch ihre virtuelle Fortsetzung im Cyberspace auf Grund seiner Fähigkeit unabhängig vom Ort Daten in Echtzeit austauschen zu können. Das was produziert wird, wird a priori auch gebraucht. Gegenüber dem Markt ist ein höherer Grad von Kommunikationsrationalität erreicht. Ein kommunistischer Neigungen unverdächtiger Informatiker stellte vor einiger Zeit ein Modell vor, das auf diese Weise eine Grundversorgung realisiert.21

Der Kommunismus muss bei Strafe des Untergangs den Weg einer Ökonomie der Zeit zu einer Ökonomie der Ressourcen (der stofflichen Flüsse in Raum und Zeit) schaffen In ihr erst wird der rationelle Stoffwechsel mit der Natur in seiner Konkretheit (in marxistischen Sinn) beherrscht werden können.

Da zentralistische Lösungen entfallen, rücken Konzepte der Selbstorganisation ins Blickfeld. Phänomene der Selbstorganisation lassen sich in den unterschiedlichsten Bereichen beobachten. Ohne spezielle Einwirkungen von außen entwickeln sich komplizierte Strukturen (Strukturen höherer Ordnung), wie die Gestaltbildung lebender Wesen, das kohärente Licht des Lasers oder der Kongress hier. Prigogine bezeichnete stationäre Zustände, die jenseits der Instabilität eines thermodynamischen Zweiges auftreten, als dissipative Strukturen. Offenbar sind folgende Existenzbedingungen notwendig:

(i) Offenheit des Systems (ständiger Stoff- und Energieaustausch mit der Umgebung),

(ii) Nichtlinearität der inneren Dynamik,

(iii) Überschreiten kritischer Parameterwerte, insbesondere eines Mindestabstandes vom Gleichgewicht,

(iv) Kooperativität der Mikroprozesse,

(v) Auftreten geeigneter Fluktuationen (d.h. zufälliger kleiner Störungen).

(iv) ist der kybernetisch-systemtheoretische Aspekt, der Hermann Haken zur Begründung der Synergetik veranlasste. In Systemen, die aus vielen Untersystemen bestehen und die unter geeigneten Bedingungen kooperativ zusammenwirken, können makroskopische Strukturen auftreten, die durch wenige Parameter beschrieben werden können.22 Die Theorie der Selbstorganisation erfordert neben dem deterministischen, den funktionalen Aspekt beschreibenden Anteil (in der Regel Differentialgleichungen) einen stochastischen Anteil, weil die Fluktuationen Voraussetzung für das Entstehen dissipativer Strukturen sind und sie die weitere Entwicklung des Systems entscheidend beeinflussen. Sie erfassen nach Prigogine das "Milieu", das auf die Prozesse einwirkt. Die Theorie dissipativer Strukturen stellt somit einen Zusammenhang zwischen der funktionalen und der Raum-Zeit-Struktur-mäßigen Ordnung her. (Charakteristisch für Selbstorganisationsprozesse ist das Zusammenspiel von kurzreichweitigen Wechselwirkungen, die stochastischer Natur sind, mit einer Fernordnung, durch die das System als ein Ganzes wirkt.)

Dieses Verhältnis von lokalen Aktivitäten unter globalen Wirkungsbedingungen läßt sich als Paraphrase der berühmten Passage aus Marx' "Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie" lesen23, wonach die Menschen in unabhängig von ihrem Willen existierende Verhältnisse gestellt sind, in sie verändernd eingreifen, wenn die Zeit reif ist; und Prigogine selbst stellt die Beziehung zu Althussers Begriff der strukturellen Kausalität her24. Daß Natur- und Sozialwissenschaften hier tatsächlich näher aneinanderrücken, zeigen die erfolgreichen mathematischen Beschreibungen nicht nur von Zellvorgängen oder der Bildung von Termitenhügeln, sondern auch von sozialen Prozessen wie der Urbanisierung.

Wir fassen zusammen: Der Kommunismus steht vor der Aufgabe den Stoffwechsel assoziierter Produzenten mit der Natur rationell zu regeln. (Das ist das Einfache, das schwer zu machen ist.) Die Menschen machen ihre Geschichte selbst, aber nicht aus freien Stücken. D.h. die Hemmnisse, die die jetzige Produktionsweise ihm in den Weg legt, lassen sich nicht durch Dekret beseitigen, sondern durch Klassenkampf und einen Entwicklungsstand der Produktivkräfte, die ihrerseits die Bedingung für die volle Entfaltung der Produktivkraft des Menschen liefern. Zu diesem Entwicklungsstand gehört unumgänglich der Computer. Unumgänglich für die Befreiung der Ergebnisse menschlicher Produktion von ihrer Warenform, unumgänglich für die Beherrschung einer Raum-Zeit-Ökonomie und unumgänglich für die jederzeitliche Präsenz des "general intellect" durch das Internet für die Lösung der Probleme in der Organisation der lokalen Materialflüsse. So erst kommt Globalisierung zu sich selbst; wird das geschichtlich notwendig Gewordene in Wirklichkeit gesetzt. Und damit lüftet sich das Geheimnis, was es denn mit der Sowjetmacht im künftigen Kommunismus auf sich habe. Es ist die Macht der vernetzten betrieblichen und kommunalen Räte, die erforderlich ist um diese Aufgabe mit nüchternem Verstand und heißem Herzen zu erfüllen.

Helmut Dunkhase

Anmerkungen

1 Lenin: Unsere außen- und innenpolitische Lage und die Aufgaben der Partei, LW 31, S.414

2 Georg Klaus/Rainer Thiel, Über die Existenz kybernetischer Systeme in der Gesellschaft, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 1962/1

3 Stefan Meretz, Linux & Co, Ideen für eine andere Gesellschaft, S.44, Neu-Um 2000

4 MEW 23, 5. 393

5 MEW 23,S. 514

6 Wolf-Dieter Gudopp, Der Imperialismus und die "Periode der Weltkriege", Marxistische Blätter 3/97, S.67

7 MEW 4, 465

8 Wolfgang Fritz Haug, Prolegomena zu einer Kritik der Neuen Ökonomie, Das Argument 238, S.619

9 Ursula Huws, Der Mythos der weightless economy, Das Argument 238, S.657

10 Hans-Jürgen Warnecke, Die fraktale Fabrik, Hamburg 1996, S. 95

11 Hans-Jürgen Warnecke, Ebenda, S.234

12 Der IBM-Betriebsrat Glißmann schildert in beeindruckender Weise die "Hölle der neuen Selbstständigkeit", die als sich selbst organisierender Prozess sozialer Anpassung erlebt wird, in: Sebastian Herkommer (Hrsg.), Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalis-mus, Hamburg 1999, S.150 ff.

13 MEW42, S.602

14 Eric 5. Raymond, The Cathedral & the Bazaar, O'Reilly, Beijing-Cambridge-Famham-...,1999. Es wurde allerdings von verschiedener Seite auch darauf hingewiesen, dass die Me-tapher nicht ganz stichhaltig ist

15 Michel Husson, Fin de travail ou réduction de sa durée, in: Actuel Marx No 26, Les nouveaux rapports de classes, p.131, Evry 1999

16 LeMonde 12/8/00

17 Georg Klaus, Kybernetik und Gesellschaft, S. 278, Berlin 1964

18 Hans Fischer, Verallgemeinerung von Erfahrungen bei der Anwendung mathematischer Methoden in der Leitung und Planung der Wirtschaft der DDR (Dissertation), S. 87, Berlin 1978

19 Rainer Thiel, Quantität oder Begriff'?, S. 394, Berlin 1967

20 MEW 19, S.20

21 Klaus Haefner, Soziale Einkommensverteilung - nicht "Arbeit für alle" ist das Problem, Franküirter Rundschau 21.9.1996, S.14

22 vgl. Gottfried Jetschke, Mathematik der Selbstorganisation, S.22, Berlin 1989

23 MEW 13, S. 8f

24 Ilya Prigogine, L'Ordre par Fluctuations et le Systeme Social, In: Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge N 260, S. 38. Dort verweist er auf: Louis Althusser u.a., Lire le Capital, Paris 1996, p. 401

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